Erika Weinzierl, geboren am 6.6.1925 in Wien, Matura 1943, 1945-1948 Studium der Geschichte, Dr. phil. 1948, Heirat und Beginn der Karriere im Staatsarchiv ebenfalls 1948, 1950 und 1954 Geburt der Söhne, Habilitation 1961 an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien, ab 1964 Leiterin des Instituts für kirchliche Zeitgeschichte am Forschungszentrum Salzburg, ab 1967 außerordentliche Professorin, 1969 ordentliche Professorin für Österreichische Geschichte an der Universität Salzburg, von 1979 bis 1995 ordentliche Universitätsprofessorin für Neuere und Neueste Geschichte am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Seit 1995 emeritierte Professorin. Verstorben 28. Oktober 2014.
Wenn wir zu Ihnen ganz spontan „1955“ sagen, was kommt Ihnen da – ebenfalls ganz spontan – in den Sinn?
Weinzierl: Der Staatsvertrag.
Wie verknüpfen Sie dieses Ereignis mit Ihrer persönlichen Geschichte?
Weinzierl: Es war der 15. Mai. Es war ein schöner Tag für mich und meine Familie, obwohl mein jüngerer Sohn damals erst ein Jahr alt war und der andere gerade erst fünf – aber für meinen Mann und mich war das ein sehr, sehr schöner Tag.
Es waren 10 Jahre vorausgegangen, die nicht ganz so schön waren für viele ÖsterreicherInnen, oder zumindest partiell nicht ganz schön waren. Welche Erinnerungen an die sogenannte Besatzungszeit fallen Ihnen ein?
Weinzierl: Ja, da ist die Erinnerung eine ganz merkwürdige. Die Prof. Dr. Erika Weinzierl ist vom April 1945, als die Russen gerade die Stadt erobert oder befreit haben und wir haben diese letzten Kriegstage im Keller verbracht, bei meiner Mutter, und dann haben wir vorsichtig auf die Straße geschaut und da haben wir als erstes auf der Straße einen toten russischen Soldaten liegen gesehen.
Wenn wir jetzt eine fiktive Skala hernehmen: freudigstes Erlebnis in dieser Zeitspanne und traurigstes Ereignis – was kommt da bei Ihnen auf diese Skala?
Weinzierl: Freudigstes ist sicher der Staatsvertrag und freudig war für meine Familie und mich auch das Ende 1945. Wir haben die Niederlage des Deutschen Reiches als Befreiung empfunden, als Befreiung Österreichs! Und dieser tote russische Soldat war einer von jenen, die die Stadt befreit haben – für uns.
Ich weiß aber nicht, wie die Mehrheit der Wiener darüber gedacht hat.
Die öffentliche Meinung ist schnell gekippt. Die Befreier wurden sehr schnell die Besatzer. Wie sehen Sie das als Zeitgeschichte-Professorin?
Weinzierl: Ja, das kann ich sehr schwer trennen.
Für uns sind sie eigentlich – also persönlich – die Befreier geblieben, aber natürlich haben wir einiges miterlebt – nicht in meinem Haus – aber wir haben das sehr wohl gehört. Im 6. Bezirk etwa hat es Vergewaltigungen gegeben, und dann waren auch Uhrendiebstähle. Ich habe so etwas persönlich, Gott sei Dank, nie erlebt, aber das hat die Stimmung der Leute natürlich sehr, sehr gedrückt.
Eine Stimmung, die ja auch die Parteien aufgegriffen haben.
Wir sind bei unserer Recherche auf den Werbeslogan der ÖVP 1945 gestoßen: „Für Ur-Wiener und Wiener ohne Uhr – wählen Sie ÖVP“
Es dürfte also Niederschlag gefunden haben.
Weinzierl: Also diese Uhrengeschichte – in unserer Familie nicht – aber die war wirklich arg – leider.
Die Bemühungen um den Staatsvertrag waren, wie wir heute wissen, ja relativ lange; Es hat relativ früh begonnen und ist dann wellenbewegungsartig weiter gegangen.
Wann haben Sie und Ihre Familie gedacht, jetzt könnte es etwas werden? War das schon früh, oder … ?
Weinzierl: Ja, wir habe relativ früh gehofft, und eben lange gehofft, und wir waren dann immer wieder enttäuscht. Ich war im 45er-Jahr 20 Jahre alt und im Jahr [19]48 habe ich geheiratet, im Jahr [19]50 ist der erste Sohn auf die Welt gekommen. Das alles hat sich in dieser Zeit abgespielt und wir haben immer gehofft, es endet.
Haben Sie Armut erlebt in dieser Zeit?
Weinzierl: Hunger!
Also die Nazis hatten ja tatsächlich vorgesorgt. Da gab es diese Lebensmittelkarten und das hat ja funktioniert, so halbwegs, bis zum Kriegs-Schluss, dann aber nicht mehr. Meine Mutter zum Beispiel hat ihren ganzen Schmuck in dieser Zeit, nach Kriegsende, hergegeben, nur für Lebensmittel. Ich kann mich daran erinnern, dass ich einmal mir ihr über die Reichsbrücke zu Fuß hinüber gegangen bin. Wir haben dort Lebensmittel geholt und dann hat uns ein russisches Lastauto mitgenommen, die waren sehr nett. Und dann haben alle Leute in der Familie gesagt, dass wir verrückt waren, meine Mutter und ich, dass wir da überhaupt hinaufgestiegen sind. Und wir haben beide gesagt: Warum? Die waren sehr nett und wir waren sehr froh, dass wir nicht zu Fuß gehen mussten. Das zeigt natürlich schon die Stimmung und, dass man sozusagen Leute, die sich auf ein russisches Lastauto getraut haben, für nicht ganz normal gehalten hat.
Wann ist es spürbar besser gegangen?
Weinzierl: Ab 1948.
Also wirklich erst ab 1948?
Weinzierl: Ja.
Und dann aber spürbar! Schrittweise oder linear, oder wie würden Sie es heute einstufen?
Weinzierl: Ich würde sagen: doch deutlich spürbar. Ob das sehr schnell gegangen ist … ? Bis dahin war die Frage Essen – und wie kriegt man es und so weiter – schon ein Problem, und dann nicht mehr. Obwohl wir noch Besatzung hatten.
Haben Sie die Hilfe aus dem Ausland persönlich erlebt?
Weinzierl: Nein, wir haben nie ein Care-Paket bekommen.
Die Handhabung war also unterschiedlich?
Weinzierl: Sehr unterschiedlich. Nicht ein einziges Care-Paket! Mich hat das eher unberührt gelassen, aber das ist damals schon oft erzählt worden: Also die und die kriegen laufend aus dem Ausland Care-Pakete…
Der Schulbetrieb in dieser Zeit in Wien – wie war der?
Weinzierl: Meine Eltern waren Lehrer und die waren nicht belastet, sondern im Gegenteil – mein Vater war Sozialdemokrat. Er wurde dann Schulinspektor und meine Mutter Schuldirektorin. Ich weiß daher ziemlich genau, dass der Schulbetrieb relativ ordentlich und regelmäßig vor sich gegangen ist.
Also der war immer schon ordentlich in Österreich?
Weinzierl: Naja, wenn ich an die Nazi-Zeit denke und ich habe [19]43 maturiert, da ist dann schon sehr viel Politik ab [19]38 in die Schule gekommen und zwar vor allem durch eine Direktorin. Ich bin in die Rahlgasse gegangen und da haben wir eine total fanatische Nazi-Frau als Direktorin bekommen, die Vorgängerin war eine habilitierte Altphilologin, Gertrud Herzog-Hauser, und dann ist die andere gekommen und das höre ich heute noch:„Also, wenn ihr wissen wollt, was gut und böse ist, dann braucht ihr euch nur die Augen des Führers vorzustellen und dann wisst ihr‘s.“
Haben Sie für sich persönlich Erinnerungsgegenstände und Fotos aus dieser Zeit?
Weinzierl: Ja, aber leider Gottes in einem Schreibtisch, ungeordnet. Sogar ziemlich viele, aber nicht geordnet, das ist zwar eine Schande für jemanden, der lange Archivarin war, aber Fotos habe ich nicht geordnet.
Jetzt kommt abschließend eine relativ pathetische Frage.Was würden Sie sagen, was sind die Lehren aus diesen 10 Jahren, in denen die Zweite Republik „erstanden“ ist und sich erst langsam positionieren musste. Was sind die Lehren daraus?
Weinzierl: Ich finde die Frage nicht pathetisch. Ich habe zuerst Medizin studiert und dann erst im Herbst [19]45 begonnen, Geschichte zu studieren. Für mich war also diese Zeit von [19]34 bis [19]45 insgesamt eine schlimme Zeit, die allerschlimmste von [19]38 bis [19]45. Meine zwei besten Freundinnen waren sogenannte Mischlinge, um in der Nazi-Diktion zu sprechen. Das heißt, die jeweiligen Mütter waren Jüdinnen und ich bin von der Nazi-Direktorin, die ich schon zitiert habe, gerufen worden … ich wurde denunziert, das hat es leider auch gegeben. Mit Namen. Ich hab‘ genau gewusst, wer das war: Du verkehrst im Haus von Jüdinnen, du weißt, dass das strafbar ist. Deine Eltern sind Lehrer, es geht schon bis zum Reichsstatthalter. Naja, die Freundschaft haben wir deshalb nicht aufgegeben, aber das war ungut.
Wie ist man dann mit den Denunzianten, die man sogar gekannt hat, umgegangen?
Weinzierl: Die waren dann weg, die waren dann nicht mehr in der Schule und ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist.
Und Sie können dadurch auch nicht sagen, wie Sie mit ihnen umgegangen wären, wenn Sie sie getroffen hätten.
Weinzierl: Nein, kann ich nicht sagen.
Letzte Frage: Der damals so bezeichnete „Tag der Fahne“, der 26. Oktober – welche Erinnerungen haben Sie daran?
Weinzierl: Also ich muss sagen, so merkwürdig es klingt, wir waren ja keine Nazis, aber überzeugte Österreicher: Mit dem „Tag der Fahne“ habe ich aber eigentlich nichts anfangen können. Es hat für uns keine Rolle gespielt, auch für mich nicht.
Ich muss gestehen, dass ich – abgesehen davon, dass ich ab und zu eingeladen war, in der Schule zu reden, dann habe ich es schon gemacht – aber ein besonderes patriotisches Gefühl überkommt mich auch nicht, so merkwürdig es klingt.
Es ist ja auch ein merkwürdiges Datum.
Weinzierl: Es war praktisch ein Kompromiss. Lange, und damit hätte ich mich anfreunden können, ist der 15. Mai zur Diskussion gestanden – und der wäre mir viel einleuchtender gewesen.
Frau Professor, wir danken für das Gespräch!
Interview mit Prof. Dr. Erika Weinzierl am 21. Oktober 2004 um 14 Uhr im Institut für Zeitgeschichte, Altes AKH, Hof 1